F. Rehschuh: Aufstieg zur Energiemacht

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Titel
Aufstieg zur Energiemacht. Der sowjetische Weg ins Erdölzeitalter, 1930er bis 1950er Jahre


Autor(en)
Rehschuh, Felix
Reihe
Osteuropa in Geschichte und Gegenwart (1)
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
373 S.
von
Timm Schönfelder, Mensch und Umwelt, GWZO

In seiner Dissertationsschrift verfolgt Felix Rehschuh auf einer breiten Quellenbasis aus den russländischen Staatsarchiven den langen Weg zum sowjetischen Erdöl. Gerade die 1930er- und 1940er-Jahre identifiziert er dabei als eine Zeit der «Ursprünge der engen Verflechtung zwischen russischem Staat und Erdölsektor» (S. 7). Dazu lautet seine zentrale These, dass «weniger die strukturellen und technischen Defizite des Wirtschaftszweigs, sondern der fehlende politische Wille [die] Hauptursache für den sowjetischen energetischen Sonderweg» (S. 17) war, den eine grosse Starrheit und mangelnde Innovationskraft charakterisierten.
Bereits um die Jahrhundertwende war Russland dank seinen reichen Ölfeldern am Kaspischen Meer und im Kaukasus zum weltgrössten Erdölproduzenten aufgestiegen Trotzdem forcierten die Bol’š eviki nach der Oktoberrevolution von 1917 vorrangig Festbrennstoffe wie Kohle als Energieträger für die propagierte Elektrifizierung des Landes. Derweil sollten Devisen aus dem Erdölexport nach Grossbritannien und Frankreich die Industrialisierung finanzieren. Hatte der andauernde Bürgerkrieg grosse Schäden an der Infrastruktur in Südrussland verursacht und die Förderkapazität teils um bis zu dreissig Jahre zurückgeworfen (S. 54), so verhalf zur Zeit der Neuen Ökonomischen Politik eine enge Kooperation mit kapitalistischen Investoren der Erdölwirtschaft zu neuer Blüte. Als die Weltmarktpreise während der Wirtschaftskrise von 1929 einbrachen, wurde diese vormals überaus rentable Branche in der Führungsriege um Stalin jedoch unpopulär (S. 61 f.). Zahlreiche neftjaniki (Ölarbeiter) fielen dem Grossen Terror von 1937/38 zum Opfer. Die Sowjetunion steuerte in eine Versorgungskrise, die sich besonders zu Beginn des Zweiten Weltkriegs deutlich bemerkbar machen sollte.

Daran änderte auch die in den 1930er-Jahren durch den GULag noch zögerliche Erschliessung der nordwestrussischen Rohstoffvorkommen wenig, der Spezialisten aus Baku und Groznyj samt 30‘000 Häftlingen in die seit 1938 autonome Sowjetrepublik Komi verbrachte. Hierbei spielten offenbar nicht nur die Eigenlogiken des «Lager-Industrie-Komplexes», sondern auch geostrategische Überlegungen eine Rolle (S. 214–230). Gegen Ende der 1940er-Jahre wurde «die Häftlingsarbeit zu einer bedeutenden Basis für die zunehmenden Erschliessungsarbeiten» (S. 219). Neue Förderpunkte wie etwa auf Sachalin sollten die örtliche Abhängigkeit von den weit entfernten etablierten Zentren in Aserbaidschan und dem Kaukasus verringern.

Im Zuge der Aufrüstung avancierte die Sowjetunion bis zum deutschen Überfall im Sommer 1941 zum Nettoimporteur von Flüssigtreibstoffen, vorrangig aus den USA. US-amerikanische Experten halfen zudem beim Aufbau von Raffinerien, um besonders hochoktanige Treibstoffe zu produzieren. Gleichzeitig wurde im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts auch der Handel mit dem Dritten Reich ausgebaut – sowjetisches Erdöl und Getreide gegen deutsche Technik. Dieser Teufelsdeal, der zunehmend zu einer Form des «Economic Appeasement» (S. 103) verkam, verschlechterte die Versorgungslage der Roten Armee dramatisch. So resümiert Rehschuh, die Sowjetunion habe einerseits «beinahe zwei Jahre lang die Lagerbestände des Deutschen Reichs gefüllt und in erheblichen Teilen die Ressourcengrundlage für den Feldzug Barbarossa geschaffen», andererseits aber auch Zeit gewonnen, die eigene Kohle- und Stahlproduktion zu konsolidieren (S. 106). Eine energiepolitische Kehrtwende, die Versorgungsengpässe beseitigt hätte, blieb während des «Grossen Vaterländischen Krieges» (1941–1945) aus.

Der aufziehende Ost-West-Konflikt liess die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit den USA erst erkalten, dann erstarren. Hatte amerikanische Förder- und Verarbeitungstechnik noch den Grundstein für die Treibstoffversorgung gelegt, so war die Sowjetunion nun gezwungen, sich auch mit Blick auf die fortschreitende zivile Motorisierung zu emanzipieren. Versuche, Erdöl durch Kohle oder Erdgas als Energieträger zu substituieren, hatten sich als unpraktikabel erwiesen. In der Folge forcierte die Sowjetführung den Technologietransfer aus den besetzten Gebieten Ostmitteleuropas bzw. die Aufrechterhaltung der Produktion wie im Falle Ungarns, wodurch sie «eine wichtige Ressourcengrundlage des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Mobilisierung des militärischen Potentials» zu Beginn des Kalten Krieges schuf (S. 189). Um die regionale Zersplitterung des Erdölsektors zu überwinden, wurde Ende der 1940er-Jahre zudem der massive Ausbau des innersowjetischen Pipelinenetzes beschlossen.

Mit fortschreitendem Alter zog sich Stalin aus der Diskussion der Wirtschaftspläne zurück. Das verschaffte den neftjaniki grösseren Spielraum. So gewann der Erdölsektor im fünften Fünfjahresplan (1951–1955) die Oberhand über die Kohleindustrie. Dabei verschoben sich die Förderzentren immer weiter gen Osten. Nach Stalins Tod produzierten dann Baschkirien und Tatarstan das Gros des Erdöls, 1954 erzielte die UdSSR schliesslich einen Nettoüberschuss im Erdölaussenhandel. Dies begründete die nach wie vor andauernde Abhängigkeit Europas von sowjetischen bzw. russischen Energieexporten.

Die Studie liefert einen informativen Überblick zur Entwicklung des russisch-sowjetischen Erdölsektors. Eine konzisere Darstellung mit stärkeren thematischen Schwerpunkten wäre aber wünschenswert gewesen. So verliert sich der Leser bisweilen im argumentativen Klein-Klein der Quellen, Protagonisten treten oft hinter verwaltungshistorischen Zusammenhängen zurück. Die für den Rohstoffsektor nicht unerhebliche regionalpolitische Komponente ist weitestgehend ausgeklammert, ganz zu schweigen von den schwerwiegenden ökologischen Implikationen der Förderpraktiken. Als Ausblick wäre zudem ein Brückenschlag über die 1950er-Jahre hinaus in die energiepolitische Gegenwart aufschlussreich gewesen. Rehschuhs Arbeit bietet dennoch umfassend recherchierte Einblicke, die es weiter zu diskutieren gilt.

Zitierweise:
Schönfelder, Timm: Rezension zu: Rehschuh, Felix: Aufstieg zur Energiemacht. Der sowjetische Weg ins Erdölzeitalter. 1930er bis 1950er Jahre, Köln 2018. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 71 (1), 2021, S. 212-214. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00080>.

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